KERSTIN STECHL
"Text ist ..."
Sterben Provokateure aus?
„Für alle Lieben in der Welt“: Jörg Immendorff-Ausstellung im Haus der Kunst, München –
Ein Rundgang mit Prof. Markus Lüpertz
München - Im Rahmen der Reihe Talks & Tours führte Prof. Markus Lüpertz am 4. Dezember 2018 durch die Immendorff-Ausstellung im Haus der Kunst. Im Dialog mit Kurator Dr. Ulrich Wilmes brachte er den rund 130 handverlesenen Gästen das Werk seines langjährigen Weggefährten, Kollegen und Freundes näher – informativ, humorvoll und gespickt mit Anekdoten aus der gemeinsamen Zeit. Neben Kunstliebhabern sowie Freunden und Förderern des Münchener Kunstinstituts waren auch zahlreiche aktuelle und ehemalige Lüpertz-Schüler der Akademie der Bildenden Künste, Kolbermoor, dabei.
Die Ausstellung, die noch bis zum 27. Januar 2019 zu sehen ist, schlägt einen Bogen von Immendorffs Anfängen an der Düsseldorfer Kunstakademie über die gesellschaftspolitische Werkphase ab den 1960er Jahren bis hin zu den allegorisch verschlüsselten Gemälden seiner letzten Schaffensperiode. Die Ausstellung folgt keiner chronologischen Reihenfolge, sondern zeigt die knapp 200 Werke in einzelnen Kapiteln.
Auf seinem Ausstellungs-Rundgang pickte sich der gut gelaunte Kunstprofessor einzelne Immendorff-Arbeiten heraus. An konkreten Beispielen erklärte er das Verhältnis des viel zu früh verstorbenen Künstlers zu seinem Lehrer und Mentor Joseph Beuys, zu Staat und Gesellschaft sowie zu den Künstlern seiner Zeit. Außerdem ließ es sich Markus Lüpertz nicht nehmen, die Bedeutung der Malerei in der bildenden Kunst immer wieder hervorzuheben und ins Verhältnis zu anderen Kunstgattungen zu setzen.
Maler oder Bildhauer
Seinen Ausstellungsrundgang begann Lüpertz im Foyer mit der monumentalen Skulptur „Naht“ (Brandenburger Tor – Weltfrage), die Immendorff für die Documenta 7 im Jahr 1981/82 geschaffen hatte. Dieses symbolträchtige Monument steht für das zweigeteilte Berlin, als sichtbare Narbe zwischen den beiden Machtblöcken nach dem zweiten Weltkrieg. Zur künstlerischen Umsetzung sagte Lüpertz, die Bildhauerei habe lange Zeit ihre Bedeutung verloren, erst mit den Malern der 70er und 80er Jahre, unter anderem Immendorff, Beuys, A. R. Penck und ihm selbst, seien neue Wege beschritten worden. Penck sei der erste gewesen, der seinen zeitgenössischen Malerkollegen den Weg in die Bildhauerei vorgezeichnet habe. Anders als ein Bildhauer ginge ein Maler ganz anders mit dem Objekt um. „Es kann sein, dass die Skulptur eines Malers vorne ganz anders aussieht als hinten“, sagte er. „Wir haben die Skulptur wiederbelebt!“
Immendorff, Beuys und Penck
Während sich die Besuchergruppe im nächsten Raum vor dem Monumentalgemälde „Café Deutschland I“ von 1977/78 versammelte, sprach Markus Lüpertz über Immendorffs frühe Schaffenszeit und dessen Anfänge als Bühnenmaler. Lüpertz: „Zuerst war Immendorff der Inhalt wichtiger als die Malerei“, sagte er. Lange habe er sogar sein eigenes Talent verleugnet. Der verstorbene Künstler sei „wahnsinnig gutmütig“ gewesen, „wollte immer allen helfen“ und habe die Welt retten wollen.
Als 20-Jähriger sei Immendorff an der Düsseldorfer Kunstakademie von seinem Kunstprofessor Joseph Beuys sehr gefördert worden. Beuys habe ihm auch eine Ausstellung in der bekannten Galerie von Alfred Schmela vermittelt. Umgekehrt war Immendorff von Beuys tief beeindruckt. In dem 1977/78 begonnenen Zyklus „Café Deutschland“, der am Ende aus 19 großformatigen Gemälden entstand, ist Beuys stets präsent, aber auch andere Persönlichkeiten dieser Zeit, aus Ost und West. Unter anderem sind Bertolt Brecht, Helmut Schmidt, Erich Honecker und A.R. Penck zu sehen.
Immendorffs Auseinandersetzung mit der Politik kommentierte Lüpertz mit den Worten: „Immendorff wollte von Penck immer die Bestätigung, dass Kommunismus gut ist“. Aber bei Penck, der im Osten lebte und von seiner Grundeinstellung Kommunist war, seien zunehmend Zweifel aufgekommen.
Nach dem Mauerfall
Am Beispiel von „Café de Flore“, einem Monumentalbild aus den Jahren 1990/91, beschrieb Lüpertz Immendorffs neue Lust an der Provokation. „Er provozierte“, sagte er, „und was passierte? Die Leute fingen an, Immendorffs Provokationen zu mögen!“ Immendorff habe viel mit schwarzer Farbe gearbeitet, die für Schatten, aber auch für Aggression steht. Lüpertz: „Immendorff provozierte mit Qualität. Denn die größte Form der Provokation ist die Qualität.“
Beim Malen sei Immendorf wie ein Bühnenbildner vorgegangen. Lüpertz: „Er malte wie ein mittelalterlicher Maler. Zuerst malte er alles vor. Dann malte er alles grün. Dann alles rot.“ Für jede Farbe sei er die großen Leitern im Atelier hinauf und wieder heruntergeklettert. Mehrfach betonte der Kunstprofessor, Immendorf sei ein völlig eigenwilliger, moderner Maler gewesen. Als Historienmaler einmalig.
Doch Immendorffs Provokationen zogen weitere Kreise; mit seinen Festen, inklusive Alkohol- und Kokaingenuss, habe er sich nicht nur Freunde gemacht. Lüpertz: „Wenn man eine gewisse Narren-Position erreicht hat, glaubt man, man könne sich alles leisten.“ Und dass sich auch Jörg Immendorff nicht alles leisten konnte, zeigt seine Verurteilung zu 11 Monaten Bewährungsstrafe nach einer Düsseldorfer Hotel-Party, was ihn beinahe die Anstellung an der Kunstakademie Düsseldorf sowie seine Pension gekostet hätte.
Nach Ausbruch der Krankheit
Immendorffs Bildthemen änderten sich nach seiner 1998 diagnostizierten Nervenkrankheit ALS, die ihn auch zu einer veränderten Malweise geführt hatte. Er bestimmte die Themen, den Pinsel führte er zuletzt jedoch nicht mehr. Nach der Bildbesprechung „Letztes Selbstportrait I – das Bild ruft“ von 1998 und „Selbstportrait nach dem letzten Selbstportrait“ von 2007, die sich in Raum 2c gegenüberstehen, sagte Lüpertz ernsthaft aber gut aufgelegt, dass ihn die neue Malweise seines Freundes und Weggefährten in eine Sinnkrise gestürzt habe. „Wenn man merkt, dass andere machen können, was ich auch kann, dann schaffe ich mich selbst ab.“
Mit Blick auf die vielen „modernen“ Kunstgattungen, insbesondere im Hinblick auf die Fotografie, sagte Lüpertz, dass die Malerei eine ganz besondere Disziplin sei. „Erst musst Du üben, dann bist Du Handwerker. Und dann brauchst Du noch ein bisschen Genie!“ Es sei schade, dass die Malerei als Disziplin heute kaum noch vermittelt werde. „Die Menschen haben verlernt zu sehen!“ Daher sei die Immendorff-Ausstellung in München so wichtig. An das Publikum gewandt fragte er: „Wann haben Sie zuletzt eine Ausstellung über reine Malerei gesehen?“
Immendorff als Provokateur
Der ungewöhnliche Titel der Ausstellung „Für alle Lieben in der Welt“ geht auf einen Bildtitel zurück. Das Gemälde eines Babys mit roter Haut und Blumenstrauß aus dem Jahr 1966 war Teil einer umfassenden Serie, die Babies ganz unterschiedlicher Herkunft zeigen. Die Babies sind alle pausbäckig und lachen, für Immendorff stehen sie „als Zeichen für Liebe und Frieden“. Mit seiner damaligen Lebensgefährtin Chris Reinecke realisierte Immendorff von 1968 bis 1970 neodadaistische Kunstaktionen unter dem Begriff „Lidl“. Mehrmals wiederholt klingt der Begriff „Lidl“ wie eine Babyrassel – und das war so gewollt. Denn hinter der vermeintlichen Naivität steckten konkrete Bezüge zum Zeitgeschehen: Die Provokation bestand darin, den Themen Vietnamkrieg, Wettrüsten, Atomkraft und Umweltaktivismus etwas betont Kindliches, Verspieltes entgegenzusetzen.
In die Lidl-Zeit fällt auch die Entstehung von „Hört auf zu malen“ (1966), ein Bild, mit dem Immendorff nach neuen Wegen gesucht hatte. „Das war ganz klar gegen mich gerichtet,“ sagte Lüpertz, als die Besuchergruppe das Werk in Raum I betrachtete.
Am Ende des Rundgangs lobte der Kunstprofessor seinen langjährigen Weggefährten: „Jörg Immendorff war als Historienmaler einmalig! Und er war Provokateur. Aber Provokateure sterben leider aus!“ Denn nur mit Qualität könne man provozieren. Und das habe der viel zu früh verstorbene Immendorff bestens beherrscht.
Kerstin Stechl